Nearest Truth - A podcast devoted to photographyEpisode 390, 03/2024
Jens Liebchen is a German artist whose work crosses the threshold between documentary, photojournalism, street photography, and conceptual practice.In essence, Liebchen’s work is not positioned to a specific genre but plays between the boundaries of each, creating a rich and dynamic practice. His recent book, L.A. Crossing, has been published by Hartmann Books. Throughout the course of the conversation, we spoke about Jens’ background, but also his various books including DL07 Stereotypes of War, a fascinating, if hard to find book that plays with the tropes of war photography in the vein of Gilles Peress. It is a fascinating study in which the artist uses the language of war photography to subvert our expectations as the work was shot in 21st Century Tirana, Albania where there was no war. The results are credulous and impressive. Please Tune into our conversation.
https://nearesttruth.com/
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. Juli 2023
Wenig Himmlisches in der Stadt der Engelvon Freddy Langer
Auch heute noch finden sich in Los Angeles spuren geradezu obszönen Reichtums, doch schieben sich Bilder von Elend und Tristesse in den Vordergrund. Jens Liebchen hat sie vom Auto aus fotografiert.
Manchmal sei er im Kreis gefahren, sagt Jens Liebchen, und korrigiert sich auf der Stelle: Natürlich nicht im Kreis gefahren, sondern viermal im rechten Winkel abgebogen. Nämlich dann, wenn er den Eindruck hatte, ein Motiv warte auf ihn, oder wenn ihm die Schönheit der Schrift an einem Haus, die Unwirklichkeit einer Pflanze in einem Vorgarten oder auch die Trostlosigkeit, der sich ein Bettler ergeben hat, nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Und manchmal, gesteht er, blieb er dann mit dem Wagen am Straßenrand stehen und fuhr sogar ein paar Meter nach vorne oder hinten, um den idealen Punkt für seine Aufnahme zu finden. Verlassen allerdings hat er das Auto zum Fotografieren nicht ein einziges Mal; im Gegenteil, es war ihm wichtig, dass stets ein stück Wagen ins Bild ragt: der Holm eines Fensters etwa, die Silhouette des Rückspiegels oder die Wölbung der Frontscheibe. „My Car is my Castle“ klebt in Los Angeles auf manchen Stoßstangen. Und es ist ja tatsächlich so, dass sich die Angelenos auf ihrem Weg zur Arbeit und bei den täglichen Erledigungen darin verschanzen und ihnen das Auto im zähen Fluss des Stop-and-go zu einer Art Zweitwohnsitz wird. Oder einem Zweitbüro.
Jens Liebchen tat es ihnen nach. Bloß dass er ziellos unterwegs war, dem instinkt folgte und nicht dem, was im Laufe eines Tages zu tun ist. Dass er jenseits der vier- und fünfspurigen Freeways, die sich wie ein Netz von Venen und Arterien über die Stadt legen, abbog, wo und wie es ihm gefiel, stets auf der suche nach Motiven, in denen sich das Wesen der Stadt widerspiegelt. Schon deshalb brauchte es die Perspektive aus dem Fahrersitz. Denn Los Angeles ist eine Stadt, die nur über Autos funktioniert und die sich in ihrer Planung sklavisch der Automobilität unterordnet, seit in den Dreißigerjahren ein damals angeblich hervorragend funktionierendes System von Straßenbahnen nach gehörigem Einfluss der Autoindustrie nahezu komplett aufgegeben wurde. Jens Liebchen nennt die Stadt deshalb anachronistisch. Denn natürlich läuft der Verkehr mit all seinen Problemen der aktuellen Suche nach Lösungen für den Klimawandel bis zum Zeitmanagement einer neuen Work- Life-Balance zuwider. Der Smog, der mitunter wie ein Leichentuch über der Region hängt, von der behauptet wird, sie sei kaum kleiner als Belgien, ist dafür das auffälligste Indiz. Der Mangel an Wasser hingegen lässt sich schlechter darstellen, auch wenn gerade er in nicht allzu ferner Zukunft die Stadt in den Kollaps treiben könnte.
Jens Liebchen hat Ethnologie studiert, bevor er zum Fotografen wurde, das hat seinen Blick geprägt, und was er in Los Angeles unternahm, nennt er gerade wegen der sicht aus dem Autofenster „teilnehmende Beobachtung“. Wie ein Forscher hält er die größtmögliche Vielzahl widersprüchlicher Eindrücke zwischen Glanz und Elend fest, die jene, die dort zu Hause sind, vermutlich kaum noch bemerken und schlimmstenfalls bewusst ignorieren. Das beginnt bei einer Architektur, die sich dem Passanten gegenüber verschließt, weil jeder Fußgänger zunächst einmal verdächtig ist. Und es endet noch lange nicht bei den Obdachlosen, die bisweilen in langer Reihe ihre Zelte auf den Bürgersteigen endloser Boulevards errichtet haben, ein Leben zwischen Dreck und Hitze fristen und dennoch mit einem Sternenbanner am Mast ihren unerschütterlichen Patriotismus bezeugen. So bleibt die Stadt der Traumfabriken noch immer ein Hort der Illusionen, auch wenn sie vielerorts längst Ausdruck einer Dystopie geworden ist. Und sind nicht selbst noch so dekorativ gepflanzte Kakteen genaugenommen ein Fingerzeig darauf, dass Los Angeles inmitten der Wüste gegründet wurde. Erschreckenderweise denkt man deshalb auch bei dem Wort „sale“, das in riesigen Versalien an einer Schaufensterscheibe klebt, viel weniger an Schnäppchen als an Ausverkauf.
„L.A.Crossing“ von Jens Liebchen. Mit einem Nachwort von Matthias Harder.Hartmann Books, Stuttgart 2022. 100 Seiten, zahlreiche Farbfotografien. Gebunden, 40 Euro.
Aesthetica Magazine, August 2022
Exploring the Metropolis
Street photography isn’t really about streets – they are just the stage. Looking through images from the genre’s godfather, Henri Cartier-Bresson to contemporary practitioners such as Martin Parr and Clarissa Bonet, the images are about people. Jens Liebchen, however, doesn’t make street photography; he makes road photography – the difference being that the people become entirely incidental.
These pictures, now on show at Galerie Springer, Berlin, reveal America as it is experienced by many of its citizens – through the windows of a car. Indeed, there are roads in Los Angeles that don’t have pavements at all. Berlin-based Liebchen has been documenting this since 2010 in the series L.A. Crossing, which is displayed in a double bill with Peter Klare’s Collages. Liebchen describes the process as “drive-by photography” – capturing the city’s vast highways and boulevards as he moves through them at pace. The scenes are at once mundane and evocative, reflecting on the car as a mobile but private space, tapping into the fantasy of freedom offered by individual vehicles, whilst simultaneously conveying a sense of alienation that low density living and subrbanisation creates within societies.
Looking at Stephen Shore’s (b. 1947) image Beverly Boulevard and La Brea Avenue (1975), an undeniable source of inspiration for Liebchen’s series, it’s surprising how little has changed – and yet with the climate crisis looming, in years to come, the transport infrastructure that shapes the American way of life may be completely reimagined, along with images like this.
https://aestheticamagazine.com/exploring-the-metropolis/
Tagesspiegel, Mehr Berlin - Kunst, Politik und Stadt, November 2022von Christiane Meixner
DIE KUNST
Jens Liebchen »L.A. Crossing« / Klaffende Leere. Auch wer noch nie in Los Angeles war, bekommt dank der Aufnahmen von Jens Liebchen einen authentischen Eindruck von der Stadt. Dass der sich nicht mit dem offiziellen, glamourösen Blick trifft und man hier eher nicht aussteigen möchte, ist volle Absicht. Der Berliner Künstler hat auf seinem Roadtrip Gegenden jenseits der Sightseeing-Zonen in den Blick genommen. Hier wirkt jeder verdächtig, der ohne Auto unterwegs ist. „Die ganze Stadt ist vollends auf den individuellen Verkehr ausgerichtet, und so besitzen die meisten Familien auch gleich mehrere Autos“, schreibt Matthias Harder. Der Experte für künstlerische Fotogra- fie hat den Text zu Liebchens neuem Buch „L.A. Crossing“ über das Langzeitprojekt geschrieben. Wer also zu Fuß unterwegs ist, wie es immer wieder Schwarze auf den Bildern tun, der outet sich als mittellos. So werden aus den vorgeblich nüchternen, bei aller Tristesse jedoch auch eigentümlich anziehenden Momentaufnahmen zugleich kluge, soziologisch animierte Ansichten über die harten Brüche unter Kaliforniens Sonne.
DER KÜNSTLER
Jens Liebchen, 51, wurde in Bonn geboren und ging in den frühen neunziger Jahren für ein Studium der Ethnologie an die Universität der Künste nach Berlin. Gleichzeitig profes- sionalisierte er sich als Fotograf. Seit 1995 arbeitet Liebchen mit einem ebenso doku- mentarischen wie konzeptuellen Ansatz. Seine Serie „Politics & Art – Art & Politics“ mit Künstler:innen vor ihren Werken aus dem Reichstag tourte durch die Goethe-Institute weltweit. Zuletzt war er in der Ausstellung „Hollywood“ in der Helmut Newton Foundation Berlin vertreten, zur selben Zeit erschien der jüngste opulente Bildband des Künstlers: „L.A. Crossing“. In der Hauptstadt wird er von der auf Fotografie spezialisierten Galerie Springer (Fasanenstraße 13) vertreten. Die feiert ihr zehnjähriges Jubiläum mit einer Ausstellung von allen Künstler:innen, die zum Programm der Galerie gehören.
Basler Zeitung / Tagesanzeiger, 23. Juli. 2022
Wie ein Autofahrer Los Angeles sieht: Der Berliner Jens Liebchen fotografiert vom Fahrersitz aus – und folgt mit seiner Arbeit der Spur eines berühmten Kollegen.
von Ewa Hess
Los Angeles: Stadt der Engel, Stadt der Träume, Stadt der Autos. Millionen Menschen leben hier vom Auto aus: Sie kaufen ein, verhandeln, holen sich medizinischen Rat und erledigen Bankgeschäfte, ohne je ihre geschützte und klimatisierte Blechbehausung zu verlassen. Diese Lebensweise machte sich auch der Berliner Fotograf Jens Liebchen zu eigen, als er an seine Langzeitrecherche «L.A. Crossing» ging. Er fuhr Tausende Kilometer kreuz und quer durch die Stadt und schoss Bilder direkt vom Fahrersitz aus.Damit folgte Liebchen einem legendären Vorbild. Im Zentrum seines Projekts stand nämlich ein um 20 Jahre älterer Kollege, der US-Fotograf Stephen Shore und seine berühmte Aufnahme mit dem Titel «Beverly Boulevard and La Brea Avenue, Los Angeles, California, June 21, 1975».Dieses Bild gilt als Beginn der jüngeren Fotografiegeschichte. An der von Shore fotografierten Ecke gab es nämlich nichts Besonderes – ausser vier Tankstellen. Mit der Aufnahme brach Shore, heute 74, ein Gesetz der damaligen Fotografie, das besagte, dass ein Bild sorgfältig komponiert und bedeutsam sein musste.Liebchen suchte nach einem authentischen, ungefilterten L.A. So entstand eine Bilderserie, die nun auch als Buch vorliegt. Der Vergleich mit damals zeigt eine ästhetische, aber auch eine gesellschaftliche Veränderung.Die Autostadt scheint kälter geworden zu sein. Nicht im meteorologischen Sinn, denn auch hier flirrt die Hitze immer aufdringlicher. Doch die Strassen wirken abweisender und die Lagerhäuser uniformer. Nur ab und zu quillt Unförmiges heraus. «Do not block intersection» steht auf einem Schild, daneben sieht man Männer, die wie Puppen aussehen.«L.A. Crossing», so faszinierend es auch anzuschauen ist, hat einen unheimlichen Subtext. Was wie der Filmtitel eines Roadmovie klingt, könnte auch jener eines postapokalyptischen Horrormärchens sein.
Ewa Hess (Text), Rebecca Pfisterer (Bildredaktion)
https://www.bazonline.ch/wie-ein-autofahrer-los-angeles-sieht-367051019149
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Juni 2022
Hollywood-Fotos in Berlin : Boulevard der Dämmerungvon Andreas Kilb
Abschied vom Glamour: Eine Ausstellung in der Berliner Helmut Newton Stiftung zeigt Fotos aus der Traumfabrik und aus dem Los Angeles von heute. Die große Zeit der Stars, das sieht man, ist vorbei.
Seit ihrer Gründung arbeitet die Helmut-Newton-Stiftung daran, die Erinnerung an den in Berlin geborenen und in Los Angeles gestorbenen Fotografen wachzuhalten. In regelmäßigen Sonderausstellungen wird Newtons Werk mal mit dem seiner Frau June, mal mit Arbeiten kanonischer oder zeitgenössischer Fotografen kombiniert. Dabei behält der Namensgeber der Stiftung fast immer die Oberhand, was die Zahl der gezeigten Bilder und den Anteil an der Ausstellungsfläche angeht. Dieses Dominanzverhältnis gilt auch für die aktuelle Gruppenausstellung „Hollywood“. Und doch ist diesmal alles anders.Denn die neue Ausstellung ist im Grunde keine fotokünstlerische, sondern eine fotografiehistorische. Sie zeichnet den Weg Hollywoods von den Anfängen bis zur Gegenwart der Pornoindustrie im San Fernando Valley nach, aber nicht als Realgeschichte, sondern als Geschichte des kollektiven Imaginären. Erst allmählich dringt die Wirklichkeit ins Panoptikum ihrer Abbilder vor, erst spät wird aus „Hollywood“ ein Stadtteil der Metropole Los Angeles und aus der Traumfabrik der Albtraum des Alltags. Dabei gehören die Fotos von Helmut Newton, anders als die seiner Frau June, unverkennbar in die imaginäre Vorgeschichte. Man weiß, wie eng sich Newton an die klassische Glamourfotografie der Dreißiger- und Vierzigerjahre angelehnt hat, aber in der Ausstellung, die Vintage-Abzüge von Ruth Harriet Louise und George Hoyningen-Huene mit einem Portfolio von George Hurrell kombiniert, sieht man es noch einmal überdeutlich. Knapp zwanzig Jahre nach Newtons Tod ist sein fotografisches Erbe damit endgültig historisch geworden. In den Achtzigerjahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, konnte man noch glauben, dass in seinen Bildern ein Stück Zukunft des Mediums steckt. Jetzt erkennt man, dass sie zurückblicken.Was man auch sieht: Wie sehr die ins Freie und zur Reportage drängende Hollywoodfotografie der Sechziger- und Siebzigerjahre, die durch die Bildserien von Eve Arnold, Inge Morath und Steve Schapiro vertreten ist, bei Newton wieder zum Arrangement erstarrt. Arnold zeigt Marilyn Monroe bei den Dreharbeiten zu John Hustons „Misfits“ in ungestellten Augenblicken der Erschöpfung wie des Überschwangs. Dagegen wirkt Sigourney Weaver, an der sich Newton nie sattsehen konnte, in jedem seiner Porträts von ihr wie ein Kunstprodukt. Den Atelierblick des Modefotografen, den Anton Corbijn in seinen Aufnahmen von Pop-Größen wie Tom Waits, Marianne Faithfull und Clint Eastwood zugunsten eines heroischen Verismus hinter sich lässt, hat Newton überallhin mitgenommen.Dennoch betrachtet man seine Aufnahmen mit Wehmut. „Your Hollywood is dead“, steht auf einer Postkarte, die in Robert Altmans Film „The Player“ zu sehen ist, und das gilt auch für Newtons Hollywood: Es leuchtet in seinen Hochglanzkompositionen ein letztes Mal auf. Die neue Zeit, die den Glamour verscheuchen wird, beginnt schon in den Bildern, die June Newton alias Alice Springs 1984 in der Melrose Avenue in West Hollywood aufgenommen hat, unweit vom Chateau Marmont Hotel, in dem die Newtons jeden Winter wohnten und vor dem der Fotograf im Jahr 2004 seinen Herzinfarkt erlitt. Man sieht Punks, Mods, Gothic-Mädchen und andere Selbstdarsteller, die keinen Filmset mehr brauchen, um sich zu inszenieren.Die Straße selbst wird jetzt zum Set, auch zu dem des Elends und der Käuflichkeit. In Philip-Lorca diCorcias „Hustler“-Serie sitzen männliche Prostituierte vor Palmen, Autowracks und Leuchtreklamen, im Taxi oder in billigen Diners, dazu vermerkt der Fotograf ihre Heimatstadt und ihren Preis. Die Kuratoren haben eine Gelegenheit verpasst, indem sie diCorcias Fotos und die Aufnahmen aus Larry Sultans Serie „The Valley“ voneinander trennten, denn die Callboys auf den Straßen und die Pornodarstellerinnen im San Fernando Valley, die Sultan in ihren Arbeitspausen aufgenommen hat, gehören zusammen wie im alten Hollywood die Lohnschreiber und die Komparsen: Sie halten einen Betrieb zusammen, der keine imaginären Tröstungen mehr, sondern visuelle Stimuli zur Triebabfuhr produziert.
Die Entdeckung der Ausstellung sind Jens Liebchens Straßenfotos aus Kalifornien. Anders als Michael Dressel, der für sein Projekt „Los(t) Angeles“ die Erniedrigten und Beleidigten, die Schlangenbeschwörer und Jedi-Verkörperer am Hollywood Boulevard und dessen Seitenstraßen eindringlich porträtiert, hat Liebchen das Bild der Metropole aus dem Autofenster aufgenommen. So wird die Stadt der Fassaden imVorbeifahren ertappt. Die blockhafte Architektur macht ihre Bewohner –zwei Wartende an einer Bushaltestelle, ein Obdachloser in einem Hauseingang – zu Statisten. Billboards und Aufschriften gliedern den Raum, Strommasten versperren den Blick. Die Morgensonne ist ein Plakatmotiv auf einer Mauer. In dieser entzauberten Kulisse gibt es keine Dramen mehr, nur den ewigen Wechsel von Stillstand und Beschleunigung. Die Sehnsucht nach dem anderen Leben, die das Kino nährt, kommt in Liebchens Aufnahmen nicht vor. Die Stadt selbst ist zum anderen des Lebens geworden, zur Vorhölle der Ereignislosigkeit.
Und Hollywood? Es hat sich in den irrealen Raum der Superheldenfilme zurückgezogen. Was von seinem Glamour übrig blieb, sieht man in Skandalprozessen und auf dem roten Teppich der Oscar-Verleihung. Aber die Einschaltquoten sinken, der Glanz nimmt die Farben der Abenddämmerung an. Am Ende der Antike baute man die Tempel der heidnischen Götter zu Kirchen um. So puzzeln sich die Streamingdienste aus den Trümmern des Kinos ihre eigene Welt.
Andreas Kilb
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/berlin-hollywood-fotos-in-der-helmut-newton-stiftung-18098191.html
Helmut Newton Foundation »Hollywood«
Vom 3. Juni - 22. Nov. 2022 zeigt die Berliner Helmut Newton Stiftung die neue Gruppenausstellung Hollywood mit Werken von Eve Arnold, Anton Corbijn, Philip-Lorca diCorcia, Michael Dressel, George Hoyningen-Huene, Jens Liebchen, Ruth Harriet Louise, Inge Morath, Helmut Newton, Steve Schapiro, Julius Shulman, Alice Springs und Larry Sultan. In Vitrinen werden zusätzlich Fotografien von George Hurrell sowie Publikationen von Annie Leibovitz und Ed Ruscha präsentiert.
Helmut Newton ist für Gruppenausstellungen wie dieser stets Ausgangs- und Bezugspunkt; in seiner Fotografie hat er sich immer wieder auf das Kino bezogen, aber auch konkrete Filmszenen zitiert, etwa von Alfred Hitchcock oder der französischen Nouvelle Vague. So wirken einige seiner Modeinszenierungen seit den 1960er-Jahren geradezu kinematografisch, und manche Porträts seit den 1970er-Jahren wie kunstvolle Film-Stills. In den 1980er und 90er-Jahren wiederum fotografierte Newton während des Filmfestivals auch Schauspieler*innen oder Mode an der Croisette von Cannes.In der neuen Gruppenausstellung werden darüber hinaus dreizehn Fotografinnen und Fotografen mit ihren Interpretationen von Hollywood präsentiert, wie üblich in größeren Werkgruppen. Der Hauptraum ist dem Medium Film und dem System Hollywood in unterschiedlichen Aspekten gewidmet: Schauspieler*innen-Porträts aus der frühen Hollywood-Zeit von Ruth Harriet Louise und George Hoyningen-Huene, weiterhin spätere Standbilder und Filmsets von Steve Schapiro und mehreren Magnum-Fotograf*innen, darunter Eve Arnold und Inge Morath, die 1960 während der Dreharbeiten des John Huston-Film „Misfits“ fotografierten.In einer Glasvitrine wird überdies eine umfangreiche Portfolio-Mappe aus dem Besitz von Helmut Newton mit etwas späteren Aufnahmen von George Hurrell präsentiert, der Ruth Harriet Louise 1930 als wichtigster Hollywood-Porträtist der großen Filmstudios ablöste. Im gleichen Raum, etwas separiert, hängen weiterhin fünf großformatige Farbaufnahmen aus Larry Sultans Bildserie „The Valley“, mit der er die Pornofilm-Industrie nahe Hollywood untersucht hat, der größten überhaupt, gewissermaßen die ebenso lukrative Schattenseite der strahlenden Glamourwelt. In einem anderen Raumkompartiment sind fünf große, formal reduzierte Schwarz-Weiß-Porträts aus Los Angeles von Anton Corbijnpräsentiert, von Clint Eastwood bis Tom Waits. In einer weiteren Vitrine sind die berühmten Hollywood-Porträts von Annie Leibovitz ausgebreitet, die sie jedes Jahr für Vanity Fair fotografiert: die Oscarpreisträger*innen in panoramatischen Gruppenporträts als Klappcover des Magazins. So wird in diesem Raum der historische Bogen über ein ganzes Jahrhundert geschlagen, von den frühen Starporträts der 1920er-Jahre, die als vorbildhaft gelten können, bis in die heutige Zeit Hollywoods, von Vintage Prints unterschiedlicher Größen bis hin zu Zeitschriftenreproduktionen.Im hinteren Ausstellungsraum liegt der Schwerpunkt auf der Stadt Los Angeles; hier sind Julius Shulmans Architekturaufnahmen der legendären Villen in den Hollywood Hills oder Beverly Hills zu sehen, architektonische Ikonen der L.A.-Moderne, in denen manche Filmstars oder Produzenten lebten oder die gelegentlich zum Filmset wurden. Demgegenüber zeigt uns Michael Dressel seine kontrastreichen, teilweise schonungslosen Porträts der Gescheiterten und Desillusionierten oder auch Hollywood-Touristen. Es sind flüchtige Begegnungen, die durch ihre Spontanität und situative Komposition bestechen. Jens Liebchens Farbbildserie „L.A. Crossing“ entstand ab 2010 im Rahmen des von Markus Schaden initiierten Projekts „La Brea Matrix“ auf den Spuren von Steven Shore. Aus seinem Mietwagen heraus fotografierte Liebchen vermeintlich unspektakuläre Straßenszenen, die sich in Form der Bildsequenz als empathisch-soziologische Gesellschaftsstudie entpuppt. Ihm gegenüber hängt Philip-Lorca di Corcias „Hustler“-Serie aus den 1990er-Jahren, also Porträts männlicher Prostituierter rund um den Santa Monica Boulevard. Im Bildtitel wird der Name der Porträtierten ebenso angegeben wie ihr Herkunftsort und ihr Stundensatz, der sich hier allerdings auf das Foto-Honorar bezieht. In der zentralen Vitrine wird Ed Ruschas legendärer Leporello „Every Building at the Sunset Strip” von 1966 aufgeblättert und bildet den architektonisch-gesellschaftlichen Bezugsrahmen für die Kollegen, deren spätere Fotografien von den gleichen Orten und Straßenecken in diesem Ausstellungraum an den Wänden hängen.Eine andere Art von „Street Photography“ ist dieses Mal in June’s Room zu sehen, aufgenommen im Jahr 1984 von Alice Springs auf der Melrose Avenue in West Hollywood. Dort begegnen wir der musikbasierten Gegenkultur der Punks und Mods und anderen Selbstdarstellern, die die Straße zur Bühne machen, als sei alles eine Castingshow.So zeichnet diese Gruppenausstellung das Faszinosum Hollywoods nach, das noch immer viele Menschen auf der Suche nach Jobs in der Filmindustrie nach Los Angeles treibt. Wir sehen einige Stars, offiziell und privat, die Villen der Schönen und Reichen oder filmbegeisterte Touristen sowie zahlreiche Nebenmotive wie Filmrequisiten in den Studios. Die Ausstellung blickt über die gewählten Exponate einerseits 100 Jahre zurück und ist gleichzeitig hochaktuell; es ist eine Hommage an den langsam verblassenden Glanz einer ganzen Epoche, und so wird das kinematografische Storytelling hier mit fotografischen Mitteln fortgesetzt.
Photomeetings Luxembourg 2017 / »Man-made Landscapes«»Systemic« by Matthias HarderJens Liebchen’s work is characterised by a fascinating heterogeneity; from artist portrait to street photography, from individual works to series - parallel to that commissioned work and free projects are created at the highest stage. Everything is tied together by the content, which reveals a curious, spontaneous, as well as pensive view on the world. Liebchen studied social anthropology at Freie Universität Berlin, before succeeding as a photographer since the mid 1990’s. As a career changer he might have been able to approach self-induced projects more freely than many of his colleagues from the Becher class, or the Rautert class, and over the years his image series became more and more conceptual. From his repeated trips to Albania, emerged around the year 2000 a large-scale subjective study of society in black and white, which allegedly reports on the destruction and violence in everyday life, but only generates those as an after-vision in our heads. In book form, Liebchen’s publication, enigmatically called »DL07 Stereotypes of war – a photographic investigation« after the American military code for Tirana, made a splash in the photography scene. The small book covered in green linen sold out quickly and was even included as one of the few double-page spreads in Martin Parr’s publication »The Photobook«. Other projects and photo books followed, before Liebchen and his wife moved to Japan for a period of three years in 2010. There, two self-contained projects came into being, which were again turned into successful books. »Tsukuba- Narita 2011/03/13« is a description of his departure after the earthquake, the ensuing tsunami and the nuclear catastrophe in Fukushima during March 2011. He left his place of residence in the direction of the international airport and a photographic road trip of 80 shots emerged, questioning the truth of the international media coverage. One year later, Jens Liebchen captured »System«, a series of unusually quiet landscape images, which also only reveal their force on second glance. On that morning it began to snow, and Jens Liebchen almost intuitively drove directly into the centre of Tokyo, into one of the most well-known parks of the city. The park Kokyo-gaien on the edge of the great imperial garden with its strict pathway system was almost entirely covered by the veil of densely falling snow. Snowfalls pose a rare occurrence in the city of Tokyo, and in this heavy weather no one dares to go out with a camera. Thus Liebchen’s authentic view on the park and its trees remains without comparison; almost all human traces seem to disappear from this enclave of nature, even the surrounding skyscrapers fade under or rather behind the white snow crystals. Aided by his camera, Liebchen puts the conifers upon a mysterious stage of nature. When aligning the captured images, the pines stand on one horizon line. We see them as a whole, from trunk to treetop. One gets the impression, Liebchen might have been slowly spinning around his own axis while photographing in the park. Only once he stepped a little closer, which is otherwise impossible due to the barriers, and he shows us the detail of a conifer, whose dark snowed-on trunk looks as if covered in icing sugar, as well as its branches on the side. This individual image gets shown in a separate space in exhibitions and in the book publication finds its place on the rear pages - for the Japanese who start reading their books »from the back« - the back cover. Also this book, bound in light grey linen and co-published by Peperoni Books and White Press, sold out shortly after its release. A distinctive feature of Liebchen’s series »System«, is the extremely reduced colour palette of the natural scene represented. The scenery is dipped in nuances of white and light grey, faithful to the local colour of the situation captured, the light green pine needles alone stand out and transform the photograph into a delicate, timeless colour image. We would have trouble naming a date and location if we saw it for the first time without knowing something about the context in which it was captured. The skyscrapers surrounding the park only dimly appear in some of the shots, thus allow us to also read the images as a contrasting juxtaposition of nature and architecture.
But behind this beautiful idyll there is another meta-level, which Liebchen incorporated intelligently and undidactic: also nature underlies a strict system of rules in Japan and in many places is radically domesticated. Gardeners shape at their will - respectively according to a traditional Japanese ideal of beauty. This kind of intervention into a park situation laid-out by human hand but then mostly left to itself, is unknown in contemporary Europe. In Tokyo’s Kokyo-gaien park however, nothing regarding the landscape design is due to chance. Nature is rationalised, even an individual tree has its precise function in the overall system. Everything underlies and follows systematically a culturally coined perception of harmony. Jens Liebchen discloses this system of discipline and human ideal of creation en passant, not without some subtle social criticism. Like the unusual project »Tsukuba-Narita«, Jens Liebchen’s systematic series about the systematic manipulation of nature, springs from an intuitive view on the closed society of Japan. His tree images, congenially matching this precision of landscaping, first seduce our eyes and eventually widen our horizon.
Matthias Harder, Curator Helmut Newton Foundation, Berlin
Shashasha, Tokyo 07/2015Delivering Japanese and Asian Photography to the World
Berlin based photographer Jens Liebchen’s previous body of works include notable publications such as his photobook DL07 Stereotypes of war - a photographic investigation, Playing Fields and Politics & Art - Art & Politics published by the J. J Heckenhauer Gallery in Munich. Having previously called Japan home for 3 years, Jens Liebchen’s System is the most recent addition to his noteworthy body of published works. Co-published by berlin based Peperoni Books and White Press, System brings together a series of images which examine the very structures of society, reflected through the architecture of Japan’s « natural » environment. Here, Liebchen presents a series of portraits of some of the nearly 2000 Japanese Black Pines which are planted across the lawn of the Kokyo Gaien Garden Plaza, located on the Imperial palace grounds in Tokyo. The traditionally shaped and manicured forms are set against the backdrop of an urban metropolis, clouded by the snow, and haze of Japan’s winter season. Metaphorical in both intent and symbolism, the resulting images reflect a world of both conflict and beauty, deceptively sublime and vividly clear in its examination of a country’s societal structures.
PHOTONEWS.BLOGBUCH 12/2014
Die besten Fotobücher 2014
Das Beste zum Schluss! Sie sind wieder dabei? Im grassierenden Endjahresfieber. Die Symptome brechen hervor: Bilanzieren. Einordnen. Bewerten. Mit Rankings eine Ordnung in die immer größer werdende Unübersichtlichkeit zu bringen, ist Ihnen mehr denn je ein menschliches Bedürfnis? Dieses Begehren zum Thema “Fotobuch” für Sie zu befriedigen, ist uns eine besondere Ehre!
Dafür sind wir in Klausur gegangen, haben uns an dunklen Dezemberabenden in die Buchhandlung eingesperrt und aus einem Pool von vielen hundert Titeln, die dort im Lauf des Jahres aufgeschlagen sind, unser Extrakt erstellt. Wir haben den Taumel genossen, in den uns die große Unendlichkeit der Publikationsmenge mitgerissen hat. Denn wir scheinen immer noch nimmersatt, wenn es darum geht, Bücher in die Hand zu nehmen, Inhalt und Dramaturgie, Design oder die verwendeten Materialien zu begutachten. Manchmal können wir nicht anders: wir riechen sogar daran und es ist ein betörender Duft, der uns entgegenströmt. Dies ist ein Jahr, in dem wir viele Fotobücher in der Hand hielten, die wir „irgendwie” zwar gut fanden, die dann aber doch schnell wieder dem Vergessen anheim fielen und also in dieser Auswahl unberücksichtigt bleiben. Am Ende herrscht Einträchtigkeit über jene nachhaltigen Bücher, die uns dieses Jahr besonders glücklich gemacht haben...
... Jens Liebchen, System. Peperoni / White Press, 2014 - Die Farben dermaßen runtergepitcht, dass man im ersten Augenblick an Schwarzweiß denkt. Die Baumformationen, die Jens Liebchen in einem Park inmitten von Tokio während des Winters fotografiert hat, wirken ähnlich kontemplativ wie die Schwarz-Weiß-Kunst der Tuschemalerei, die in Japan bis zur Vollendung praktiziert wird. Vollendet ist auch die Serie des Fotografen, der durch einen mehrjährigen Japanaufenthalt Einblick in die hermetische Gesellschaft erhalten hat. Die Bäume tanzen, ihre Äste schlagen aus, die Stämme neigen sich zur Seite. Wildes, ungehemmtes Wachstum. Denkt man. Wiederum falsch. Der Name des Buches gibt den Hinweis. Die Bäume sind von Anfang an streng ästhetisch durchgeformt. Ein natürliches Wachstum ist völlig ausgehebelt. Ihre Form erhalten die Bäume, indem sie immer wieder beschnitten, Äste gebogen werden etc. Bis in die Natur hinein greift das Ethos der modernen, disziplinierten Industriegesellschaft mit einer sehr eigenen Traditionspflege. Großartig fotografiert, großartig gestaltet, großartig gedruckt.Zum Niederknien!
Michael Klein / Buchhandlung im Haus der Photographie, HamburgPeter Lindhorst / Photonews-Blogbuch
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25books, 11/2014
Jens Liebchen´s book ›System‹ is a delight with a false bottom. The pictures show a magical winter wonderland, a deserted, pris-tine snowy landscape with beautifully sprouted trees, that emerge, individually or in groups, filigree, snow-covered and delicate green on the branches from the soft white and gray surroundings. A natural spectacle of perfect beauty.
So it seems - but it is not that simple.
Jens Liebchen has taken the pictures in the outer part of the Imperial Palace Garden in central Tokyo. Here and there in the dense snowstorm we see cars bowl along in the background and isolated shadowy towering skyscraper silhouettes, that darken the sky. And for the trees, nature has supplied only the material. Placement, growth, size and shape are defined by people and planned down to the smallest detail. With his photographs Jens Liebchen, who lived in Tokyo for three years, reflects firm principles of the Japanese social system.
Nevertheless, the series is intriguing because of its great beauty, and the same goes for the book itself. Excellently designed by Helge Schlaghecke, printed in the finest quality and manufactured as clothbound hardcover with embossed title and tipped in image on the back the book is a bibliophilic gem.
Hannes Wanderer
photoeye.com
System: Jens Liebchen presents a series of arresting beauty and serenity, images that are at once magical and profound. The snow-covered landscapes of pine trees seem the epitome of natural spectacle or are they? Upon closer inspection, they appear too pristine, too perfect. The tradition of Japanese tree shaping has an emblematic role in that culture. The trees and shrubs growing in Japanese gardens are often drastically modified, with caretakers both controlling their placement and manipulating the growth of trunks, branches and leaves to attain what is considered a perfect shape; a system that mirrors Japanese society.
Des Livres et des photosPublié le 14 juin 2011 par Rémi Coignet
TSUKUBA-NARITA 2011/03/13
"J'ai quitté le Japon deux jours après le tremblement de terre. La situation était peu claire. Les informations des médias japonais et occidentaux différaient grandement. Le bus pour Narita était à l'heure, comme toujours". C'est avec pour seul viatique le titre et ces trois lignes de texte* que le lecteur se confronte au dernier livre du photographe allemand Jens Liebchen. Une mise en contexte qui, bien entendu, oriente la lecture des images. Le voyage entre la résidence de Liebchen dans la ville de Tsukuba, située dans l'Est de la métropole de Tokyo et l'aéroport de Narita dure environ 90 minutes pour 50 kilomètres à parcourir. Tout au long du trajet, il a photographié le paysage à travers la vitre de l'autobus. Alerté par les maigres informations fournies par Liebchen, le spectateur cherche des signes de la catastrophe. Or, que voit-on ? Rien. la banalité absolue de la grande banlieue et de la campagne péri-urbaine. Si ce n'étaient les enseignes publicitaires et quelques éléments architecturaux, on pourrait même douter d'être au Japon. Ne trouvant aucun signe de la catastrophe qu'inconsciemment il espère voir, le lecteur / voyeur s'attache aux moindres détails pour tenter de faire coïncider les photos avec le cadre de leur énonciation. Les passants sont peu nombreux ? "Hum, mauvais signe." Un homme fait son jogging ? "Inconscient !" Un cycliste porte un masque respiratoire sur le visage ? "Très inquiétant." Les stations services sont fermées tandis que devant un poste de police les voitures sont impeccablement garées ? "La zone a sans doute été désertée." La chromie des images numériques est froide, un peu bleutée ? "On se croirait dans Twin Peaks ou dans un roman de J.G. Ballard."
Tout l'intérêt de 2011/03/13 Tsukuba-Narita réside dans sa capacité à frustrer en nous le voyeur et dans l'obligation où il nous place de prendre conscience de notre attitude pavlovienne face à l'image photographique. C'est ainsi que les photos de Jens Liebchen s'inscrivent dans un questionnement absolument contemporain autour de thèmes tels que "que peut la photographie ?" ou "quelle est sa capacité à représenter le réel ?" À ces questions Liebchen n'apporte pas de réponses fermées, mais après avoir mis le spectateur face à ses propres contradictions, il a l'élégance de lui laisser le bénéfice du doute. "Et si ces photos n'avaient pas été prises à la date indiquée ?" se demande t'on au bout d'un temps. "Et si c'était le texte qui mentait ?" voudrait-on se rassurer…
Rémi Coignet
https://www.remicoignet.com/
Raum für Zweckfreiheit
TSUKUBA–NARITA 2011/03/13 ist Jens Liebchens unmittelbare künstlerische Reaktion auf die jüngsten Ereignisse in Japan. Die Arbeit wird erstmalig im RAUM FÜR ZWECKFREIHEIT präsentiert.
Am zweiten Tag nach der Katastrophe in Japan verlässt Jens Liebchen sein Haus in Tsukuba, um den Flughafen Narita außerhalb von Tokio zu erreichen. Der Titel markiert den rund 50 Kilometer weiten Weg der eineinhalbstündigen Fahrt. Die 80 Aufnahmen geben in chronologischer Abfolge den Blick aus dem Fenster in der Art eines 'Road Movie' wieder: Verkehrswege, Wohnhäuser, Vorgärten, Landschaften, industrielle Bauten und leere Parkplätze. Es ist ein sonniger Morgen. Die Bilder zeigen die charakteristische Struktur der Gegend, doch nur vereinzelt sind Menschen an gewöhnlich belebten Orten zu sehen, Tankstellen sind verwaist und abgesperrt. An einigen Hausdächern sind Spuren des Erdbebens sichtbar. Ignoriert der morgendliche Jogger die Situation oder wohin läuft er? Trug die Frau an der Kreuzung im Alltag zuvor auch einen Mundschutz? Die Bilder werfen Fragen auf, statt Vorstellungen zu bestätigen. Mit suchenden Augen wird beim Betrachten von TSUKUBA–NARITA 2011/03/13 das aktive 'Lesen' von Fotografien erfahrbar. Alltägliche Szenerien und Objekte werden mit Bedeutung aufgeladen, Schilder und Werbung erhalten zusätzliche Konnotationen. So verweist uns ein überdimensionaler pinker Golfball nicht mehr allein auf das Freizeitangebot, er wird zu einem schrillen Symbol der Erdkugel, welches an die Auswirkungen und die globale Wahrnehmung der Erdbeben-Tsunami-Atomkatastrophe und die unterschiedliche mediale Berichterstattung denken lässt. Es sind direkte, dokumentierende Fotografien, die jedoch nichts beweisen oder korrigieren wollen. Vielmehr hat Jens Liebchen eine Bilderserie von vielschichtiger Bedeutung geschaffen, die mit subtiler Wirkung die Eindeutigkeit sichtbarer Zeichen in Fotografien in Frage stellt und die Macht kontextabhängiger Bedeutung thematisiert.
Jan Ketz
DU - Die Zeitschrift der Kultur # 825Los Angeles – Von Kunst und Künstlichkeit
Zu den Bildspuren des Projektes The La Brea Matrix
… Was lag näher, als das Becher Zitat aufzugreifen und das La-Brea-Bild auf einen transatlantischen Fokus zurückzuführen, bei dem wieder die Fotografen im Mittelpunkt stehen? Das Projekt The La Brea Matrix hat diesen Gedanken umgesetzt und mit Jens Liebchen, Max Regenberg, Oliver Sieber, Olaf Unverzart, Robert Voit and Janko Woltersman gleich sechs Fotografen aus Deutschland zu einem Aufenthalt nach Los Angeles eingeladen, um fotografische Perspektiven auf das Vor-Bild zu eröffnen. Wie die jetzt vorliegenden Bildresultate beweisen, erschöpfen sich ihre Auseinandersetzungen keineswegs in einer Hommage. Vielmehr analysieren die entstandenen Serien bestimmte Parameter der Bildikone, die vor der Folie der Megametropole neue Brisanz gewinnen. … Jens Liebchen hat aus dem Diktum der der bedingungslosen Mobilität eine andere Konsequenz gezogen und sich in Los Angeles auf den Fahrersitz eines Autos begeben. Tausende Kilometer kutschierte er durch die Stadt, um aus der privilegierten Autoperspektive die Welt draußen wahrzunehmen. Eine Limitierung mit Folgen, denn es ist die andere Seite von Los Angeles, die in seinen hyperreal erscheinenden Farbaufnahmen zum Vorschein kommt: Obdachlose, vereinzelte Passanten, Menschen, die vor gesichtslosen Fassaden auf den Bus warten. „Es ist eine gespenstische Kulissenhaftigkeit, die er in seinen Bildern bloßlegt. Eine Geisterwelt, hinter deren Fassaden man besser nicht schaut“ schrieb Freddy Langer über Liebchens Bilderfolge. “DO NOT BLOCK INTERSECTION” ist irgendwo auf einem Verkehrsschild zu lesen. Präziser ist die soziologisch gefärbte Beobachtungsgabe des Fotografen wohl nicht zu fassen.
Christoph Schaden
FOAM international photography magazine, # 25 Traces, Winter 2010
Make Something Or Be Forgotten! The La Brea Matrix – Six German Photographers & A New Color Icon by Stephen Shore
… Jens Liebchen, who lives in Berlin and Tokyo, drew a different conclusion from the principle of unconditional mobility and decided to examine Los Angeles from the passenger seat of a car. He drove around the city for thousands of kilometres in order to observe the outside world from a driver´s privileged point of view, and by limiting his perspective he discovered a hidden side to the city. His hyper-real colour photographs show homeless people, isolated pedestrians and people waiting for the bus in front of anonymous facades. “His images reveal a haunting setting. It´s a ghost-like curtain you´d rather not look behind”, Freddy Langer recently wrote about Liebchen´s photo series. “DO NOT BLOCK INTERSECTION”, a traffic sign declares somewhere – there´s probably no more succinct way of capturing the photographer´s sociological observations than that. …
Frankfurter Allgemeine Zeitung, June 21, 2010
The La Brea Matrix / Auftanken in Los Angeles von Freddy Langer
„Stand“, las Stephen Shore, als er im Juni 1975 in Los Angeles auf die Kreuzung von La Brea und Beverly zurollte. Er gehorchte - und machte ein Bild, das heute zu den Ikonen der amerikanischen Gegenwartsfotografie zählt. Nun reisen für das Kunstprojekt „La Brea Matrix“ sechs deutsche Fotografen an den Ort, um zu schauen, was ihnen auffällt. Jens Liebchen war der vierte.
"Das kann nicht gutgehen", sagt Jens Liebchen. "Das kann auf Dauer einfach nicht gutgehen, wenn jeder nur fährt." Und ist sich des Wortspiels nicht einmal bewusst. Aber dann hat auch er sich ins Auto gesetzt und ist durch Los Angeles gefahren. Tagein, tagaus. Einen Monat lang. Mal diese Straße hoch, mal jene Straße runter. Oft einfach der Masse folgend, im Fluss der Autofahrer, geradeso, als würde ihn eine Strömung mitreißen; mitunter aber auch angelockt von großen Neonschildern, bunten Fassaden oder den Reihen adretter Häuschen in den freundlichen Siedlungen fern der breiten Boulevards. Am Ende hatte er dreitausend Kilometer zurückgelegt.
Wie viele Fotos er auf diesen Touren gemacht hat, weiß er nicht. Aber aufgenommen hat er sie allesamt während der Fahrt, übers Lenkrad hinweg oder aus dem Seitenfenster hinaus, das Armaturenbrett, den Rückspiegel oder ein Stück der Tür jeweils wie den Teil eines Rahmens im Bild plaziert. Kurz: Er zeigt die Stadt so, wie ihre Bewohner sie wahrnehmen.Los Angeles ist wie keine zweite eine Stadt des Autos. Daran werden auch die Versuche nichts ändern, den öffentlichen Nahverkehr mit U-Bahnen und Straßenbahnen so auszubauen, wie er einmal in den zwanziger und dreißiger Jahren funktionierte, bevor mehr als tausend Kilometer Schienen unter Asphalt begraben wurden. "My Car is my Castle" klebt als Lebensmotto vieler Angelenos an den Stoßstangen ihrer Wagen. Darin richten sie sich ein wie in der Verlängerung der eigenen Wohnung. Auf dem Weg zur Arbeit trinken sie hier ihren Kaffee, rasieren oder schminken sich, klären die ersten Geschäftstermine. Und auf dem Heimweg machen sie ihre privaten Erledigungen durchs Autofenster. So umfassend ist die Stadt auf das Auto ausgelegt, dass man nicht nur die Theken kleiner Läden, Postbriefkästen und Bankschalter vom Fahrersitz aus erreicht, sondern auch Friedhöfe und Kirchen besuchen kann, ohne das Auto zu verlassen. Kein Wunder, wenn umgekehrt sich Arbeitslose an dicht befahrene Straßen stellen, auf der Suche nach einem Job, oder ein Kriegsveteran inmitten des Verkehrs ein Schild in die Höhe hält mit der Aufschrift: "Braut gesucht!" und mit der kurzen Abhandlung eines traurigen Lebens.Natürlich ist die Anekdote nur gut erfunden, wonach Spaziergänger in Los Angeles von der Polizeistreife aufgelesen werden, weil allenfalls Einbrecher zu Fuß unterwegs seien. Aber jenseits der Touristenattraktionen und der noblen Einkaufsstraßen wird es tatsächlich leer auf den Bürgersteigen. Wenn Jens Liebchen, der Ethnologie studiert hat, sich bemüht, wenigstens einige Passanten aufs Bild zu bekommen, hat das deshalb mehr Gründe als die der Komposition. Ihn lenkt ein sozialpolitisches Interesse, denn es ist nur der ärmste Teil der Bevölkerung, der an der Automobilität der Stadt nicht teilhat. Umso härter wirkt der Kontrast der bonbonbunt gestrichenen Wände von Baumärkten, Banken und Boutiquen, die wie einem Filmset Hollywoods entnommen scheinen. Es ist eine gespenstische Kulissenhaftigkeit, die er in seinen Bildern bloßlegt. Eine Geisterwelt, hinter deren Fassaden man besser nicht schaut. "Aber noch", sagt Jens Liebchen, "läuft ja alles wie geschmiert."
Text: F.A.Z., Freddy LangerBildmaterial: Jens Liebchen, Stephen Shore
Die Zeit online, 11/2009
Auf den Spuren einer Tankstelle
La Brea war bis zum 21. Juni 1975 nur eine Straßenkreuzung zwischen dem Beverly Boulevard und der La Brea Avenue in Los Angeles. Dann drückte der amerikanische Fotograf Stephen Shore auf den Auslöser und schuf eines der berühmtesten Bilder der Fotogeschichte. Seine Chevron-Tankstelle schaffte es 1977 auf die documenta 6 und inspirierte die nachfolgenden Fotografengenerationen.Für das Kunstprojekt "The La Brea Matrix" werden die sechs deutsche Fotografen Olaf Unverzart, Jens Liebchen, Max Regenberg, Oliver Sieber, Robert Voit und Janko Woltersmann an die berühmte Kreuzung nach L.A. reisen und sich von dem legendären Ort inspirieren lassen. Zum Auftakt des Projekts zeigt die Galerie Kaune/Sudendorf in Köln bis zum 16. Januar 2010 eine Werkschau der beteiligten Fotografen. Einige der Bilder sehen Sie hier.Die Ausstellung ist der Auftakt eines bis 2012 angelegten Fotoprojekts der Buchhandlung schaden.com in Köln und The Lapis Press, Los Angeles, mit dem Ziel, Fotografen dies- und jenseits des Atlantiks zum Austausch anzuregen.
Marks of Honour Reflections on the unique homage project,exhibition catalog 06/2009
… The Berlin based Jens Liebchen, in his reference to Sons of Adam (1997) by Anthony Hernandez, tells a different story – that of a remarkable encounter in the Uzbek metropolis of Tashkent: “On a walk I came across a man and was privileged enough to be a brief witness to his performance. It seized me straight away. I took 3 shots and moved on. A river, vacant space, bushes, some housing blocks, the open sky - the man walking by the river bank, waiting …What was motivating that man and what about the man behind him? What made them go there? Are there signs of political or social change here? And if so, is the connotation positive or negative – and for whom? Photography, the eternal witness, leaves me none the wiser, but fortunately we are here to ask questions.” Liebchen´s statement is a telling illustration of how the dialogue with a photographic book can lead photographers to become more sceptical about the truthfulness of their own work. …
The New York Sun, August 21, 2008
Original Books - From the Books, On the Walls
Photo books are Paul Amador's first love, so he organized the Cohen Amador Gallery's summertime group show to reflect his enthusiasm. "Original Books" features the prints of five contemporary photographers, taken from recent books of their work. The photographers come from five different countries, and in most cases they took their pictures in what for them were foreign countries. But one thing their books have in common is that all five are currently out of print, a testament to their success.Morten Andersen was born in Oslo in 1965, but the cities pictured in his book, "Days of Night," are New York (where he studied at ICP) and Tokyo. Actually, the city in the book is more a generic end-of-the-20th-century international urban environment than any one particular place, and it could just as well be a movie set as a real city. There is a distinct film noir cast to the six pictures by Mr. Andersen that are on display at Cohen Amador, and the title of his book alludes to the "day for night" filter used in the early days of filmmaking that made it possible for a nighttime scene to be shot during the day. The pictures, identified by number rather than title, are very stylish, ambiguous, and fraught with foreboding.Like all the prints in the gallery, Mr. Andersen's "#25" is black-and-white; it is a grainy portrait of a white, mid-'60s Coupe de Ville, which emerges as a sculptural form from a totally black background, as if a Cadillac was all that was necessary to make a world. "#38" was shot in a subway station with the camera close to the ground, so it is sighted along the legs of a man lying on the platform, possibly drunk, possibly dead, or maybe just sleeping. "#40" was shot over the heads of two pigtailed Japanese girls looking down from a high window onto a scene of massed, anonymous, modern office buildings. The girls wear school uniforms with sailor-style collars, and this playful touch of innocence sets up a tension with the banal architecture.The sites from Gabriele Basilico's book "Porti di mare" (1990) are presented in his six magnificent prints with great specificity. Mr. Basilico (born 1944) trained as an architect, and has an Italian's sense of the relationship between natural and built environments. In 1984-85, he photographed landscapes and cityscapes of the coastal towns of Northern France for the regional planning authority that was investigating geographic identity and change. The studies Mr. Basilico provided them with are not routine documentaries, but beautifully poised works of art."Dunkerque" (1984) has the clarity of a painting by Canaletto, although the buildings are typical of the North. The stark, frontally lit brick façades of warehouses, some of them painted white, are seen across a wide expanse of cobbled street. A set of railroad or trolley tracks runs across the bottom of the image, parallel with the frame. No people disturb the aura of quiet, calm, and orderliness. In "Boulogne Sur Mer" (1984), the bathers and surfers on the beach in the foreground are set against the silhouette of an industrial complex on the horizon, and all of it exists under the massive cover of lowering clouds that take up the upper two-thirds of the image. The hull of a ship in a dry dock becomes part of a refined abstract composition in "Le Havre" (1984).Like Morten Andersen's "Days of Night," Jens Liebchen's "DL 07 Stereotypes of War: A Photographic Investigation" means to subvert the reputation of photographic images for truthfulness. Whereas Mr. Andersen relies on ambiguity and innuendo, Mr. Liebchen resorts to outright falsification. Or, at any rate, he sets up the viewer to misinterpret his images, which was what I did when I first saw them. The pictures appear to be reportage from a war zone — they could easily be passed off as photojournalism from Russia's incursion into Georgia last week — but, in fact, Mr. Liebchen took them in Tirana, the capital of Albania, a city at peace.Mr. Liebchen was born in Bonn in 1970; that is to say, in a Germany still divided by the dynamic of the Cold War. He must have grown up with the notion that all the world is a field of combat. For instance, the picture that is labeled "002" shows an unremarkable, shabby, two-story concrete building with some construction scraps in back, but the presence of a helicopter hovering in the sky above the building is ominous. If you think the picture was taken by a combat photographer, the supposition is that it is a military helicopter, possibly on the prowl for targets to attack. If you know the picture was taken by a tourist in Tirana, then the chances are that the helicopter is civilian and benign.There are visual tropes that recur as our contemporary images of war, and Mr. Liebchen skillfully exploits them. Picture "007" incorporates a commonplace cliché; a neighborhood is seen through the shattered windshield of a car. The meaning of the picture depends on how you think the windshield was shattered. There are two teenage boys in "017," one staring angrily at the camera, the other seen only from the neck down holding a machine gun. But look carefully and you notice the gun is a toy, and therefore the boys are not juvenile militiamen. The point of "DL 07 Stereotypes of War" seems to be that war is so ubiquitous, the pictures from one conflict are pretty much interchangeable with those of most others. In some ways, Mr. Liebchen's work is more terrifying than pictures of actual warfare. (Meyers)
The New Yorker, August 2008
"ORIGINAL BOOKS"
The booming market for photography books has prompted several shows of late, and this one focusses on five titles by artists who deserve to be better known. All published since 1990 and primarily black-and-white, the books put a smart conceptual twist on traditional photography. Jens Liebchen's images of Tirana, Albania, would appear to describe a war-torn city, but the conflict has long since abated. Keizo Kitajima's project "A.D. 1991" took him to a number of European cities, where he photographed the citizens and their environment; only his street portraits are here, and they're strong enough to recall both Walker Evans and Michael Schmidt.
European Photography, Nr. 78, Vol. 26, Issue 2, Winter 2005/2006
Playing Fields
In Playing Fields thematisiert Jens Liebchen das Große Spiel unserer Zeit in den ehemaligen Sowjetrepubliken rund um das Kaspische Meer - das Gebiet mit den weltgrößten noch nicht erschlossenen Reserven von Öl und Gas. Reist man in diese Region, wie Liebchen es getan hat, so wird man jedoch kaum etwas von der verzweifelten Suche sehen. Er könnte Bohrtürme fotografiert haben oder einige der Umweltschäden, die die Ölindustrie verursacht, aber das wäre eine gar zu direkte Aussage, statt dessen hat er Bilder mit subtilen Anspielungen geschaffen.Die Politik kreist am Kaspischen Meer um Energie. Und so kreist auch eines der metaphorischen Leitmotive, die Playing Fields durchdringen, um die primären Quellen der natürlichen Energie und damit um den Ausgangspunkt der Fotografie - das Sonnenlicht. Liebchen verwendet Sonnenlicht und Schatten, um den Unterschied zwischen Licht (Energie) und Schatten (Mangel an Energie) zu veranschaulichen und so den Hauptgrund dafür ins Bild zu setzen, warum die Supermächte dort am Kaspischen Meer präsent sind. Ein rechteckiger Schatten zum Beispiel sieht aus wie eine in die Erde eingelassene Falltür, die in tiefere Regionen führt, wo das Öl und Gas im Zentrum des Großen Spiels angesiedelt sind.Unter der abstrakten Ruhe der Bilder liegt in Playing Fields ganz augenscheinlich ein Gefühl der Bedrohung. Manchmal kann es für einen Fotografen anregend sein, das Unsichtbare zu fotografieren. Hier jedoch ist das Unsichtbare eine Kraft, ein greifbares, unheilvolles Wesen. Alles erscheint friedvoll und irdisch, aber die bedrohliche Gegenwart, auf die Jens Liebchen beredte Fotografien anspielen, deutet ganz sicher auf eine nicht weniger bedrohliche Zukunft.
Gerry Badger
The Photobook: A History Vol. II.Martin Parr / Gerry Badger, Phaidon Press 2006
Jens Liebchen / DL07 Stereotypes of War
When Jens Liebchen visited Tirana in Albania, the city was peaceful. One or two ruined buildings where the only signs of recent conflict. Or possibly not. The “ruined” buildings he photographed may have been under construction. The soldier with the sub-machine gun at the top of a flight of steps may simply have been guarding a public building. The football stadium may have been used for sport, not for public executions.The premise of Liebchen´s brilliant, intriguing little book is that the photo-reportage of war, as Ian Jeffrey points out in the introduction, is a genre, a set of predictable conventions, „no more authentic … than the War Film or the Western“. Thus Liebchen first sets out to explore the nature of photographic seeing by reconstructing (and deconstructing) the reportage clichés that we largely take for granted, composing them as calculatedly as any maker of studio photographic tableaux, though his method is simple re-emphasis. Using sly allusion and knowing observation, he takes “ordinary” documentary photographs yet builds up a picture of a city racked by the tense atmosphere of conflict. Once the potential scenario is established with the first picture in the series, of the guard with the machine gun, followed by a helicopter hovering over a building, then a smudge on a car windscreen that might be a bloodstain, the rest follows quite naturally. The false narrative delivers the clichés adroitly – the shattered windscreen, the children with guns – until even the shadow of a figure on the ground has sinister connotations, and we are ready to believe the worst at every turn.However, as Jeffrey notes, by using the language of the “slice of life” photographer Liebchen is also making another point over our existence, not only in time and place, but in history. Photography and the television news report deal with the here and now. The recent media explosion has bombarded us with images in response to our desire to know what is happening, either in the Middle East or in the immediate neighborhood. But we are being manipulated from afar. The information we are fed provides instant gratification, while our knowledge of the unseen forces that move history is as limited as ever. Liebchen´s postmodern reportage tells us to trust nothing – neither tale nor teller, and certainly not the postmodern deconstruction of both.
Photonews, 2/2001
DL07 Stereotypes of War - A Photographic Investigation
Angesichts der Übermacht der bekannten etablierten Fotobuch-Verlage muß jedes nicht aus diesen Verlagen stammende Buch als Gewinn bezeichnet werden. Wenn es dann noch, wie das im Verlag und Antiquariat Heckenhauer in Tübingen herausgebrachte Buch mit Fotografien von Jens Liebchen, im Layout, in der Typografie, im Druck des Textes und vor allem der Abbildungen und im Leineneinband mit Prägung mit so viel Aufmerksamkeit für die Details gemacht ist, steigt dieser Gewinn noch. Bemerkenswert auch die Textgestaltung in deutsch und englisch, wie das in Deutschland immer noch eine Ausnahme ist, obwohl so viel von Internationalisierung gesprochen wird. So viel zur Form, für die neben dem Fotografen der Geschäftsführer des Verlags, Roger Sonnewald, Sorge getragen hat, der damit in loser Folge eine Reihe mit speziellen Fotografiebüchern startet, um jungen Fotografen ein Forum zu bieten.Das Buch vereint Fotografien, die der in Berlin ansässige Jens Liebchen während der kommunistischen Vorherrschaft westlichen Interessenten lange verschlossen war. Entgegen farbiger Impressionen legte er seine Fotografien in dunkel gehaltenen Schwarz-Weiß-Tönen an, die bedrohlich, wenn nicht sogar gefährlich wirken. Sie lassen an bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen denken, wie sie zu unseren diffusen Vorstellungen von Albanien passen. Überall und hinter jeder Ecke scheint Gefahr zu lauern, und überall fällt der Blick des Betrachters auf Relikte möglicher Gewalt. Der Gedanke an Kriegsfotografien liegt nahe und ist insofern nicht abwegig, als Jens Liebchen dieses Genre zwar reflektiert, jedoch einen ganz anderen Ansatz verfolgt. Obwohl es, als er in Tirana war, keine aktuellen Kämpfe gab, ließ das Wissen um solche vor seinen Augen scheinbare Kampfszenen entstehen. Sein Wissen - und das schließt das des Betrachters mit ein - formte erst solche Bilder, die nach kriegerischen Aktivitäten aussehen und so spielt er mit unserem Wissen um Reales, Fiktionales und Virtuelles, also mit der heute allgegenwärtigen Verunsicherung über den Wahrheitsgehalt von Bildern. Es ist unsere individuelle Fantasie und Imagination, die aus seinen Motiven die Bedrohlichkeit herausschält, eine Bedrohlichkeit, die ihnen real nie zugrunde lag. Wenn er ein Hochhaus zeigt, das in seinen Grundmauern existiert, dem es aber noch an Fenstern, Außenputz und jeglichem Baukomfort mangelt, dann es handelt sich in Wahrheit um einen noch nicht fertig gestellten Bau, der allein in unserer Vorstellung, gefördert durch die abstrahierenden Schwarz-Grau-Töne, den Gedanken an eine kriegsbeschädigtes Gebäude aufkommen läßt. Wir, die Rezipienten seiner Fotografien, sind es, die diesen Bildern ihren möglichen Schrecken eingeben, Und insofern gehören diese Bilder zu den im Buchtitel angesprochenen Steretoyps of War, also zu jenen redundanten und klischeehaften Kriegsbildern, die wir abrufbereit im Kopf herumtragen. Dazu paßt auch das rätselhafte Kürzel "DL07" im Titel. Es benennt die Koordinaten, die der weltweiten Sattelitenüberwachung zugrunde liegen, und die vom Kartografischen Institut des US Verteidigungsministeriums in der Gazatteer of Albanien veröffentlicht wurden. Die darin anklingende Observation kommt der fotografischen Beobachtung gleich, wobei sich der strategisch militärische Kontext unmittelbar erschließt. Assoziativ läßt sich das mit einem Motiv in Verbindung bringen, das einen Hubschrauber über dem Dach eines Hauses zeigt, das seinerseits vergitterte und teils verschlossene Fenster hat. Wer observiert hier was und zu welchem Zweck? Oder ist es einfach nur ein vorbeifliegender Hubschrauber? Das Buch gibt darauf keine klaren Antworten. Indem Jens Liebchen gar nicht erst den Versuch unternimmt, objektive Informationen vermitteln zu wollen, macht er sich eine Autorenhaltung zu eigen, die als Konsequenz aus den Echtzeitreportagen, wie sie das Fernsehen liefern kann, zur Verlagerung der Perspektive auf das Randständige und das Beiläufige und schließlich das Fantasievolle führt. Und mit Haltung ist das thematisch geschlossene, fotoästhetische Arbeiten gemeint. Das allerdings zeigt das Buch sehr genau.
Enno Kaufhold
Stuttgarter Zeitung, Nr. 91, 2001
Konstruktionen des Krieges im Auge des Betrachters: Jens Liebchens Fotografien
Krieg und Fotografie haben eines gemeinsam: in beiden geht es immer auch um den Besitz der Wahrheit. Da diese im Auge des Betrachters liegt - oder genauer: in seinem Bewusstsein - bleibt der Disput zwischen subjektiver Wahrnehmung und dem scheinbar objektiven Medium Fotografie ein ewig spannender Wettstreit. Der Berliner Fotograf Jens Liebchen liefert nun einen eigenwilligen Beitrag zu der stets aktuellen Frage, was dem Publikum mittels Kriegsfotografie eigentlich geboten wird. "Stereotyps of War" (Edition J. J. Heckenhauer, Tübingen/Berlin, 48 Seiten, 24.90 Euro) benennt schon im Titel die Annahme, dass Bilder vom Krieg Konstrukte sind - mehr oder weniger willkürlich herstellbare Projektionen, die nicht unbedingt etwas Zutreffendes über die Wirklichkeit aussagen, die sie vorgeblich zeigen. Liebchens raue Schwarzweißbilder aus Tirana spielen virtuos mit den optischen Elementen solcher Konstruktionen: Waffen, Trümmer, Helikopter, Demonstrationen, vorbeieilende Passanten - weil alles zur Chiffre des Krieges werden kann, gibt nichts Gewissheit. Uns ferneren Betrachtern bleibt folglich nichts anderes, als bei der Wahrheitssuche ein paar unverwüstliche Grundsätze festzuhalten, die gerade im postmodernen Mediengeflimmer unverzichtbar sind: Verschiedene Quellen vergleichen, die Motive der Berichtenden abklopfen, ihre persönliche Glaubwürdigkeit abschätzen. Und wenn gar nichts anderes geht, das tun, wozu Jens Liebchens Bilder auffordern: kritisch hinsehen statt schnell zu urteilen.
Der Tagesspiegel, Literatur, Nr. 17474, 22. Juli 2001
Die Augenblicke nach dem Krieg
Ein Fotograf ist unterwegs in Tirana. Er versucht, Bilder gegen andere Bilder zu finden. Es geht ihm darum, die Ästhetik der Agenturen zu unterlaufen, er will einen subversiven Blick für seine Umgebung entwickeln. Jens Liebchen, 1999 ausgezeichnet mit dem Europäischen Preis für Architekturfotografie, entdeckt in einer vom Krieg berührten Stadt die kleinen Zeichen der großen Unsicherheit, das hingekritzelte Graffiti, das eine Maschinenpistole zeigt, die Pappbox mit dem Rotkreuz-Emblem, die neben Mülltonnen vergammelt, Menschen, die sich eilig und etwas schwebend zu bewegen scheinen, als hätten sie keinen festen Boden unter den Füßen. Der Kommentator des kleinen Fotobandes (Jens Liebchen: stereotypes of war, a photographic investigation. edition j. j. heckenhauer, Tübingen/Berlin 2001, 49,80 DM), der Fotografiehistoriker Ian Jeffrey, spricht vom Kriegsreporter als einem "nervösen" Reisenden. Das Terrain solcher Reisender ist nicht mehr zivil - sie befinden sich auf einem militarisiertem Gelände. So nennt Liebchen sein Buch "DL07" - das ist die Bezeichnung für Tirana als "Universal Transverse Mercatorprojection" auf dem UTM-Gitter, wie es das kartographische Institut des US-Verteidigungsministeriums veröffentlicht. Aus diesem Gitter bricht Liebchen das Nichtvermessbare heraus - die Augenblicke.
lensculture.com
Book review and interview by Jim Casper with Jens Liebchen concerning the book:DL 07 - stereotypes of war a photographic investigation
Jens Liebchen, a young photographer from Germany, has already published several small, clever photobooks that are beautifully designed visual musings, often paired with thought-provoking philosophical texts.In this one, DL07 stereotypes of war, a photographic investigation, he has constructed a series of black-and-white photos of a city under seige – menacing helicopters buzzing abandoned buildings, furtive figures scrambling down deserted streets, smoke-filled skylines, blood-stained walls and sidewalks, too-young children armed with machine guns… Yet he took all of these photos in a city (Tirana, Albania) while it was at peace.By co-opting the cliched genre of war photography and presenting a sequence of photos in a deliberate manner, the “reportage” easily carries the burden of reference that 150 years of war photography has etched into our collective consiousness.Ian Jeffrey, author of photographic history and professor at Goldsmiths College, University of London, writes in his introductory essay:“There is ... more involved here than the analysis of a genre. Liebchen’s is, in actuality, deconstructive work, for not only does he present the elements in the practice of “war photography” but at the same time he gives an account, by implication, of their developments. War photography is a dangerous business, which stands to reason, and in the age of the heroic modernists it was expected that the war photographer should face dangers squarely: Robert Capa and Eric Borchert are two who paid with their lives for the sake of this unmediated coverage. Post-modernists, on the other hand, don’t take that heroic standpoint, mainly because the wars they report form no part of a larger cause. Mostly, these wars have local dimensions incomprehensible to an outsider, and might be carried out by devoted patriots, but equally by robbers and deluded children… The photgraphic reporter is of necessity in these conditions a transient, principally a nervous traveller in unreliable streets.”With these thoughts in mind, then, the reader goes back to look carefully at each picture, with some kind of personal delight, to deconstruct each, and to analyse how the sequence of presentation helps to build a strong fiction. Even in this age of enlightened media distrust, we realize how easily it is to be tricked by “accepting” images at face value (even without captions or explanatory text which could further distort the truth).This is a beautiful little hardbound book, published in an edition of 750 copies by J.J.Heckenhauer.
* * * * *Jens Liebchen discussed this book with Jim Casper in an interview conducted via email:
JC: Do you think the best vehicles for communicating your ideas are books? If so, why? Have you also shown this work in other ways?
Jens Liebchen: Indeed I do think that books are a very good media to communicate ideas, concepts, stories in photography, and personally I love photography books. A good photography book is compact and complex at the same time. When I was working on DL07 from the beginning on I wanted to present it as a book.Publishing a work as a book offers additional layers to put in information, by means of graphic design corresponding to the subject, by presenting the photographs in a special order and of course by using different sizes of reproduction. In this respect a book could work in a way like a movie. DL07 starts with the most obvious and direct image, a soldier with a gun on top of a stairway, but having seen that image makes it possible to understand the second image with the little helicopter: You are already intrigued.I presented this work as well in exhibitions in form of framed prints: Pretty small prints of 30x40 cm and a classical presentation makes most people react as looking at a “real” reportage whereas the larger version of 115x150 cm prints strengthens particular images.In any case the title “DL07” is very important – there is something no one can understand, something that is strange and in this respect it makes you sensitive and astonished.When did you start making books? How many have you made?In fact DL07 has been my first book and it has been a wonderful coincidence that I got to know Roger Sonnewald (J.J.Heckenhauer) in those days who made it possible to publish it. The great thing really has been, that there were no regulations concerning this book – and I do think that in the end this is a great part of its success. I got more and more interested in publications and editions and I have done quite a lot, since than. Beyond others, in 2004 I published an edition with schaden.com entitled “The Flag”: A big box, wrapped in red silk, with a collection of 7 reproductions of Polaroids I did some years ago… Finally in 2005 I published my latest work “Playing Fields”, designed by Winfried Heininger in form of a magazine with images from Kazakhstan, Uzbekistan, Georgia and Armenia. Published again by Edition Heckenhauer it brings in exemplary images the hidden traces in those places where geopolitics is at work in search of power and oil.
How did you choose to collaborate with Ian Jeffrey?
Again a nice coincidence: In fact we got to know each other in Tirana where I participated in a show that was partly curated by him. After I had started to work on that series and the general concept was fixed I sent him some images and he liked the idea from the beginning.From my personal point of view I consider texts as very important for photography books in general, at least when the book is conceptual. Concerning DL07 and Ian Jeffrey we had a wonderful exchange and I am very happy to have this text printed in the book.
Were you surprised at how easy (or perhaps how difficult) it was to make the photos for this book?
Even if it looks very simple to take these images in the end it seemed to be pretty difficult. Actually the first pictures I took during the time when the general idea for this project came up just happened – and that of course was just fun. But when I returned to Albania for a longer trip and I was in fact searching for special images – that evolved to be very difficult.
www.lensculture.com/jens.html
Art in America, Sept. 2004
Jens Liebchen at Paul-Löbe-Hausby Matthias Harder
The new seat of the German government was built in the abandoned fields surrounding the Reichstag and not far from the razed Berlin Wall. This complex includes the Paul-Lobe-Haus, a parliamentary office building completed in 2001 by the architect Stephan Braunfels, who recently designed the Pinakothek der Moderne in Munich. The German parliament developed an ambitious program to decorate these new buildings with architecturally sensitive works. Artists from Germany and around the world were invited to submit designs. Among those selected were Gerhard Richter, Sigmar Polke, Georg Baselitz, Anselm Kiefer and Hans Haacke, along with individuals from the former allied states that had administered Berlin since the end of the war, such as Christian Boltanski, Grisha Bruskin, Jenny Holzer and Norman Foster, the architect of the redesigned Reichstag building.The Berlin photographer Jens Liebchen, who witnessed this process from the very beginning, presented 68 images from the enterprise. There were portrait sessions with each artist, sometimes shot with black-and-white film and other times with color. Liebchen continues the art-historical tradition of portraying the artist with his or her own work and also offers his own photographic reading of the site-specific pieces. His approach is both reserved and demanding.Holzer, who designed an LCD display for the Reichstag, was photographed by Liebchen from slightly below and with a wide-angle lens, achieving a distorting yet monumentalizing effect. Baselitz, who has taught for many years at the Berlin School of the Arts and, with Richter, has markedly influenced the course of German art, is presented almost as a footnote beneath his large-format work. It's a playful conceit that is open to interpretation. The underlying theme of Liebchen's study is the range of manners--as diverse as the works themselves--with which internationally renowned artists present themselves at a site of such symbolic magnitude.
Matthias Harder, Art in America, Sept. 2004
Kunstzeitung, Nr. 95, Juli 2004
Auf politischen Parkett. Ein Fotobuch von Jens Liebchen
Georg Baselitz am Fuß einer Treppe, neben sich sein Monumentalbild, noch zu einer Riesenrolle aufgewickelt. Ein knappes Dutzend Klappseiten weiter das Porträt des Malers in Nahaufnahme. Zuletzt der Künstler am gläsernen Geländer auf dem Treppenabsatz, unerreichbar weit oben über sich sein Werk an dessen endgültigem Bestimmungsort: Das imposante Gemälde erscheint im hohen, luftigen Südeingang des Berliner Reichstags plötzlich optisch zum moderat proportionierten Format geschrumpft. Sein Schöpfer hingegen muss sich im Vergleich mit einer ungewohnt dezenten Nebenrolle als Randfigur bescheiden. Geradezu verschwindend klein nimmt sich Baselitz an seinem Standort aus, von Fotograf Jens Liebchen an den unteren Seitenrand gerückt.Den Mythos vom abgehobenen Künstlergenie lässt Liebchen - im Grenzbereich von Konzept und Dokumentation ein Lichtbildspezialist für Kunstereignisse - nicht einfach so im Raum stehen. Was seinen speziellen Reiz hat und nahe liegt, da es sich um die Repräsentationsarchitektur der Bundesbauten handelt. Die sich zum Leidwesen vieler Künstler oft ebenso grandios wie übermächtig in den Vordergrund spielt. Liebchen holt die Künstler mit ihren perfektionierten Standardrepertoires an Posen und Gesten zurück auf den hochglanzpolierten Boden handfester Arbeitszusammenhänge und -sachverhalte: hier speziell aufs für sie vielfach ungewohnte politische Parkett.Die präzisen Fotografien zeigen Künstlerportraits von Jenny Holzer, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Sigmar Polke, Katharina Sieverding und anderen Stars, die im Reichstag mit ihren Arbeiten vertreten sind: Zu sehen sind ferner unaufgeregte bis gänzlich unspektakuläre, aber minutiöse (Detail-) Beobachtungen während der Hängung beziehungsweise Installation der Werke eines Anselm Kiefer, Christian Boltanski oder Günther Uecker. Sie gehören zur Auswahl von insgesamt 37 Schwarzweiß-Aufnahmen von 15 Künstlern, die Liebchen in einem neuen Fotobuch veröffentlicht hat.Der Bildband mit dem Titel "Politik und Kunst - Kunst und Politik. Künstler und ihre Werke im Reichtagsgebäude" ist in der Edition J. J. Heckenhauer, Berlin/Tübingen erschienen (168 Seiten, 58 Euro). Herausgegeben wurde er im Auftrag des Deutschen Bundestages von Andreas Kaernbach (Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages) und Roger Sonnewald (Inhaber des Verlages und der Fotogalerie J. J. Heckenhauer in Berlin). Die Fotografien sind bis 10. Juli zudem in einer Ausstellung der Galerie Heckenhauer zu sehen. Liebchens Fotoserie - die ihrerseits zur Sammlung des Deutschen Bundestages gehört - ist komplett noch um ein Vielfaches umfangreicher. Schließlich hat er das Kunstprogramm für die Regierungsbauten des Deutschen Bundestages von 1999 bis 2003 von Anfang bis Ende fotografisch begleitet.
Elfi Kries, Kunstzeitung, Nr. 95, Juli 2004
Qvest, Nr. 14, Mai-Juni 2004
Politics and Art
Wer den Berliner Reichstag besucht, stellt fest, dass sich überall zeitgenössische Kunstwerke in die Architektur einfügen und das Erscheinungsbild der geschichtsträchtigen Räume entscheidend mitbestimmen. Fast dreißig Künstler sind inzwischen mit ihren Werken im Zentrum der deutschen Politik vertreten, darunter u.a. Georg Baselitz, Gerhard Richter, Christian Boltanski und Jenny Holzer. Der Photograph Jens Liebchen schuf mehr als eine bloße Dokumentation, als er die Entwicklung der unterschiedlichen Werke von der Konzeption bis zur Realisation begleitete.Ausstellung: Galerie J. J. Heckenhauer Berlin, vom 27.05.-10.07.2004
Die Zeit, Nr. 26, Feuilleton, Kunstmarkt, 17. Juni 2004
Jens Liebchen. Politik und Kunst - Kunst und Politik. Künstler und ihre Werke im Reichtagsgebäude
Das Reichtagsgebäude in Berlin ist ein Ort der Repräsentation. Äußerlich vertritt es den Architekturgeschmack des Kaiserreichs, seine für die Öffentlichkeit zugängliche Kuppel die Demokratie. Als Sitz des Deutschen Bundestags repräsentiert es das oberste Organ der Verfassung, die gewählten Volksvertreter. Aus diesen formiert sich der parlamentarische Kunstbeirat, der nahezu 30 Künstlerinnen und Künstler eingeladen hat, den Reichstag mitzugestalten. Wie sich diese Künstler repräsentieren, dokumentiert der Fotograf Jens Liebchen in seinem Buch "Politik und Kunst - Kunst und Politik". Bundestagskurator Andreas Kaernbach und der Medienphilosoph Boris Groys haben die Begleittexte verfasst. Den Architekten des Reichtagsumbaus Sir Norman Foster fotografiert Liebchen in der Rolle des händefuchtelnden Erklärers seines Bauwerks. Im Hintergrund sieht man den Bundesadler, dessen Rückseite Foster in seinem Verständnis als Künstler-Architekt datiert und signiert hat. Kühl und herausfordernd steht Katharina Sieverding unter ihrem fünfteiligen Fotogemälde. Sigmar Polke spielt den Clown vor seinen ironischen Leuchtkästen. Günther Uecker, der den Andachtsraum des Bundestags gestaltet hat, erscheint im schmutzigen Arbeitsoverall. Markus Lüpertz posiert gewohnt adrett mit Hut, weißem Kragen und dickem Siegelring. Georg Baselitz verschwindet dagegen fast im Schatten der Wand auf der sein Monumentalgemälde hängt. Ähnlich Gerhard Richter, porträtiert von hinten blickt er zu seiner in die Eingangshalle aufragende Bildtafel empor. Jenny Holzer sitzt nachdenklich zu Füßen ihres Leuchtschriftpfeilers, während Christian Boltanski als Archivar der eigenen Arbeit auftritt. Jens Liebchen fokussiert auf den Habitus der Persönlichkeiten - arrivierte und im Kunstbetrieb seit Jahrzehnten etablierte Künstler. Ihre Wahl in die Kunstsammlung des Bundestages ehrt sie zu offiziösen Staatskünstlern. "In bedingter Zustimmung und wohlwollender Gegnerschaft", so Andreas Kaernbach frei nach Nietzsche, äußere sich diese ambivalente Partnerschaft von Kunst und Staat. Liebchens Aufnahmen variieren vom klassischen Künstlerporträt bis zum Herrscherbildnis mit Insignien der individuellen Künstlermythen. Schon aufschlussreich, wer sich da wie im Repräsentationsraum zwischen Kunst, Politik und Ego positioniert.Style & The Family Tunes, Nr. 071, Juni 2004
Und Polke posiert. Der Fotograf Jens Liebchen dokumentiert das Wechselspiel von Kunst und PolitikRund 60 Millionen Mark investierte die Bundesrepublik in die Kunst für Berliner Regierungs- und Parlamentsbauten. "In bedingter Zustimmung und wohlwollender Gesellschaft", so formuliert der Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, Andreas Kaernbach, widmeten sich damals Maler und Bildhauer der Kunst im deutschen Zentrum der Macht. Nun hat sich die Auseinandersetzung im Spannungsfeld von künstlerischer Freiheit und politischen Pragmatismus zu einem Kunstwerk verselbständigt, das man sich im kleinen Format und zum kleinen Preis auch privat leisten kann und das erfrischend wenig staatstragend daherkommt.Zunächst in eigener Regie, dann im Auftrag des deutschen Bundestages beobachtete der 1970 in Bonn geborene Fotograf Jens Liebchen die Künstler und Künstlerinnen dabei, wie sie ihre Werke in Reichstagsgebäude brachten und einbauten. Er hat die Momente festgehalten, in denen die Kunstschaffenden das Gebäude betraten, ihre Werke dort arrangierten und diesen schließlich am neuen Ausstellungsort gegenüberstanden. Liebchens Fotos fanden den Weg in zwei Berliner Ausstellungen: Das wissenschaftliche Dienstleistungszentrum des Bundestages, das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, hat sie gezeigt, und jetzt sind sie in der Berliner Galerie J. J. Heckenhauer zu sehen, die auch einen Bildband und die Fotoedition herausgibt.Politik und Kunst - Kunst und Politik. Künstler und ihre Werke im Reichstagsgebäude heißt das Buch mit einem Text von Boris Groys und einem Vorwort von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. 37 Schwarzweißfotos lassen sich ausklappen und zeigen Georg Baselitz, dynamisch den Reichstag betretend, und Hans Haacke, wie er - Hände in den Hosentaschen - unter der wehenden Nationalflagge nachdenklich davonschreitet. Skeptisch geht der Blick Gerhard Richters nach oben zu seiner deutschen Unterglastrikolore in Schwarz-Rot-Gold; flapsig posiert Sigmar Polke bei seinen zwischen Fiktion und Realität angesiedelten Politmärchenbildern und hat dabei eine Pudelmütze mit hochfliegendem Bommel auf dem Kopf. Auf einer Aufnahme recken sich drei Arbeiter auf ihren Leitern, um die riesigen Tafeln von Markus Lüpertz im Abgeordnetenrestaurant in die Höhe zu hieven; auf einem anderen scheint Gotthard Graubner wie ein Dompteur mit einem Zollstock ein ganzes Team von Mitarbeitern im Protokollsaal auf dem Boden der Tatsachen zu dirigieren. Geradezu schüchtern tritt Emil Schumacher unter seinen informellen Bildern beiseite, und Christian Boltanski steht an seiner aus Keksdosen gestapelten Wand wie vor der Jerusalemer Klagemauer.Die Debatte um die umstrittene Arbeit Der Bevölkerung von Hans Haacke ruft Aufnahmen wach, die den Künstler umringt von Journalisten und Volksvertretern zeigen. Inzwischen überwuchern wunschgemäß die von Abgeordneten mitgebrachten Setzlinge den streitträchtigen Schriftzug Der Bevölkerung im Lichthof des hohen Hauses.Jedes Bild von Jens Liebchen hat sich beobachtend und fragend auseinander gesetzt mit den Personen, dem Ort, der Architektur und den möglichen und den prekären Wechselwirkungen von Politik und Kunst. Sein Fotoband wurde den 1201 Vertretern der Bundesversammlung bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten Horst Köhler als Geschenk überreicht; für 68 Euro verkaufen ihn die Galerie Heckenhauer und der Buchhandel.Das Schöne an den Fotos des zunächst zum Ethnologen ausgebildeten Jens Liebchen ist, dass seine Bilder sich jeglichem repräsentablen Hochglanz verweigern. Wie Reportagefotografien fangen sie die besondere Situation ein, die unterschiedlichen Charaktere der Künstler, ihr Staunen und ihre Zweifel. Die handwerklich fein gestaltete Buchausgabe - duotone-Fotodruck, Fadenheftung, rot auf weiß abgesetzte Texte - dokumentiert eindrucksvoll den Dialog mit der Politik auf der einen Seite und den außergewöhnlichen Ausstellungsräumlichkeiten auf der anderen Seite. Liebchen lässt noch einmal die Augenblicke lebendig werden, in denen die Künstler ihre Arbeiten in die parlamentarischen Bauten entließen. So wurde aus den vielen einzelnen Kunstprojekten des Reichtagsgebäudes eine dokumentierende Reflexion über Kunst am Bau.Wer diese ungebunden erwerben will, für den gibt es die 37 Buchmotive von Jens Liebchen auch als Originalabzug, in einer Auflage von je zwölf Exemplaren. Sie kosten 900 Euro, die zwei Mappen mit allen Prints sind für 22 000 Euro erhältlich. Die Ausstellung in der Galerie Heckenhauer ist noch bis zum 10. Juli zu sehen. Weitere Informationen sind zu finden unter www.heckenhauer.de und unter www.bundestag.de.
Der Tagesspiegel, Nr. 18497, 6. Juni 2004
Mit dem Zollstock dirigiert
Die Bundesbauten im Berliner Regierungsviertel sind in den vergangenen Jahren auch zu Galerien zeitgenössischer Kunst geworden. Reichstag, Kanzleramt, Ministerien und Verwaltungsgebäude wurden mit Werken international renommierter Künstler und junger deutscher Talente ausgestattet.Da zeigt zum Beispiel Anselm Kiefer in einem der Empfangsräume auf der Plenarsaalebene des Reichstags ein Monumentalgemälde mit dem Ingeborg-Bachmann-Zitat: "nur mit Wind, mit Zeit und mit Klang". Der Maler Gerhard Richter hat in der Westeingangshalle ein Farbkunstwerk von 21 Metern Höhe und drei Metern Breite in den deutschen Farben schwarz-rot-gold gestaltet.Kunst auf der zweiten Ebene zeigt der Jens Liebchen. Sechs Wochen hat der 34-jährige Berliner Fotograf 30 Künstler aufgenommen, die mit ihren Werken im Reichstag vertreten sind. Jetzt präsentiert er das Ergebnis in einem Buch und zwei Ausstellungen (Galerie J. J. Heckenhauer und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus in Berlin). Da sieht man zum Beispiel die Fotografin Katharina Sieverding und den Maler Georg Baselitz, die unter ihren großen Bildern irgendwie verloren aussehen. Lutz Dammbeck, der seine Herakles-Notizen mit Handschuhen im Fraktionszimmer aufhängt, und der Maler Gotthard Graubner, der seine Helferschar mit einem Zollstock dirigiert, als ob es ein Orchester wäre. Phänomenal auch die Leiterkonstruktion, auf die Markus Lüpertz seine Mitarbeiter zum Aufhängen seiner Arbeit schickt.Allesamt sind es Künstlerportraits, die einerseits die Individualität der jeweiligen Persönlichkeiten sichtbar machen und zugleich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen der politisch-repräsentativen Architektur und dem künstlerischen Werk im politischen Umfeld offenbaren. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sagte über Jens Liebchens Werk, es sei "weit mehr als ein bloße Dokumentation, eher eine psychologische Studie über Politik und Künstlertum und ihre Begegnung in den Räumen der Politik".
Christian Surhbier
Berliner Zeitung, Nr. 127, 3. Juni 2004
Der Künstler im politischen Programm
Der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages lud Mitte der 90er-Jahre eine Reihe deutscher und internationaler Künstler ein, sich mit einem "architekturbezogenen Konzept" an der künstlerischen Ausgestaltung des Reichtagsgebäudes und der angrenzenden Parlamentsbauten zu beteiligen. Gerhard Richter wurde ausgewählt, Sigmar Polke, Markus Lüpertz und Bernhard Heisig ebenso, als Vertreter der Alliierten sind etwa Christian Boltanski und Jenny Holzer dabei. Und der Fotograf Jens Liebchen hat dieses Projekt von Anfang an begleitet. Seine Aufnahmen zeigen die Kunstschaffenden im Dialog mit der Politik - vor allem aber sind sie entstanden in jenem "Augenblick der Trennung", da das Kunstwerk am vorgesehenen Platz installiert worden war und von den insgesamt 29 Künstlern in den politischen Raum entlassen werden musste - oftmals in jenem Moment, da sie es erstmals vor Ort sahen.
Focus, 24. Mai 2004
Malerfürsten im ReichstagGeorg Baselitz steht verloren unter seinem Gemälde, Sir Norman Foster gestikuliert wild im Plenarsaal. Fotografiert wurden sie von Jens Liebchen, der die Künstler und ihre Werke für Reichstag und Parlamentsgebäude festhielt: In zwei Ausstellungen sind zurzeit die Arbeiten des 34-Jährigen zu sehen: Noch bis zum 10.7. in der Galerie J. J. Heckenhauer (Brunnenstraße 153, Di - Fr 14-18 Uhr, Sa 12-16 Uhr) und im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (Schiffbauerdamm 30 / nach Anmeldung, Tel.: 22733888).
BZ, 27. Mai 2004Blick hinter die Kulissen des ReichstagsDas beliebteste Kunstwerk im Berliner Reichtagsgebäude ist für viele die Glaskuppel des Architekten Norman Foster. Dabei haben den 1999 eröffneten Bundestagsbau 30 Künstler mit meist eigens produzierten Gemälden, Skulpturen und Fotografien ausgestattet. Rund vier Millionen Euro hat sich das die Bundesregierung kosten lassen. Die Produzenten und ihre Werke hat der Fotograf Jens Liebchen vor Ort dokumentiert. Seine Fotos erscheinen jetzt als Buch. Sie sind ab dem 27.5. in der Berliner Galerie J. J. Heckenhauer sowie im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ausgestellt - Letzteres ist nur mit Voranmeldung zu besichtigen (am 29.5., 5.6., 12.6., Tel.: 030/22733888).
Berliner Morgenpost, BerlinLive, 20. - 26. Mai 2004
Kunst im Kontext der Politik
Es klingt wie ein Experiment: Mitte der neunziger Jahre kaufte der Deutsche Bundestag große Kunst von deutschen wie auch internationalen Künstlern, um sie in seinen Berliner Gebäuden zu installieren. Und immer, wenn einer der Künstler kam, um die Arbeit unter seinen strengen Augen installieren zu lassen, war Jens Liebchen schon da.Der Berliner Fotograf hielt fest, wie Georg Baselitz, Jenny Holzer, Gerhard Richter oder Christian Boltanski auf die erste Begegnung mit den Bauten reagierten. Seine Kamera war dabei, wenn die Künstler ihre Arbeit zum ersten Mal am jeweils vorgesehenen Ort erlebten.Aus diesen Ortsterminen ist ein eigenes Projekt entstanden, das die Verschmelzung von Politik und Kunst mit den Mitteln der Fotografie reflektiert. Die dazu gehörenden Bilder - die gerade auch in Buchformat erscheinen - sind ab heute in der Galerie J. J. Heckenhauer zu sehen.
tip, 20. Mai - 2. Juni 2004
Jens Liebchen. Kunst im Bundestag
Der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages lud Mitte der 90er Jahre eine Reihe deutscher und internationaler Künstler ein, sich an einem architekturbezogenen Konzept für die künstlerische Ausgestaltung des Reichtagsgebäudes sowie der angrenzenden Parlamentsbauten zu beteiligen. Der Fotograf Jens Liebchen begleitete diesen Prozess von Anfang an und porträtierte die Künstler vor ihren Arbeiten. Er dokumentierte, wie sich die Künstler dem Dialog mit der Politik einerseits und der Architektur andererseits stellen. Er war vor Ort, als die Künstler ihre Arbeiten in die parlamentarischen Bauten entließen und diese zum ersten Mal an dem jeweils vorgesehenen Ort erlebten. Die Fotografien, die entstanden, sind ein eigenständiges Kunstprojekt - eine mit den Mitteln der Fotografie gestaltete Reflexion über Politik und Kunst.
Süddeutsche Zeitung, Nr. 109, 14. Mai 1999
Alle Farben für den Reichstag
Wie aus dem opulent dekorierten "Leichenwagen erster Klasse" eine Galerie zeitgenössischer Malerei wurde, in der allerdings manches deplaziert wirktKunst im Reichstag - das ist schon fast ein Widerspruch in sich. Seit der Parlamentsbau an der Biegung der Spree "Dem Deutschen Volke" zu Diensten steht, haben die gewählten Vertreter dieses Volkes immer wieder heftig gegen die zeitgenössische Kunst im Reichstag protestiert. Dennoch war das Haus immer mit künstlerischen Erzeugnissen überladen wie die Brust eines Brigadegenerals nach einem heldenhaften Krieg. Als der Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann 1922 in die "Reichtagsauschmückungskommission" gewählt wurde, nannte er das Gebäude einen "Leichenwagen erster Klasse", der eigentlich eine "Abschmückungskommission" nötig habe.Tatsächlich waren die Säle, Flure und Treppenhäuser vollgestellt mit Skulpturen, die Wände bedeckt mit Karyatiden, Kartuschen, Masken und Wappen. Nur Gemälde gab es kaum irgendwo; der Anteil der Malerei beschränkte sich auf ein paar Landschaftsbilder, auf farbige Glasfenster und auf die opulenten Dekorationsmalereien, die dem Speisesaal, den Spitznamen "Wallot-Bräu" einbrachten. Das Reichstagsgebäude wurde damals also noch ganz nach den rationellen Kunst-Hierarchien ausgestattet: Die Baukunst bestimmte den Stil des Hauses, die Bildhauerkunst hatte sich bedingungslos unterzuordnen, die Malerei war allenfalls als Lückenfüller in der dichten Abfolge der Dekorelemente gefragt.Als der Münchner Maler Franz von Stuck 1899 zwei extrem lange, dekorativ verspielte Gemälde im Foyer des Bundesrats aufhängte, hatten die Vertreter der Reaktion leichtes Spiel. Ein paar kernig-höhnische Sätze in Plenum genügten, um "die Sache in ihrer ganzen widerlichen Häßlichkeit" dem Gelächter preiszugeben. Neun Jahre nach dem Stuck-Skandal war dann der ebenfalls aus München stammende Expressionist Angelo Jank das Opfer der populistischen Hatz-Jahd. Seine drei Darstellungen nationaler Ereignisse auf der Stirnwand des Plenarsaals wurden 1909 nach wenigen Wochen wieder angehängt, weil sie bei den Wortführern im Parlament "keine freudigen Gefühle auslösten.Man muß diese Skandale kennen, um zu begreifen, wie bewußt sich nicht nur der Architekt Norman Foster, sondern auch der Kunstbeirat des Bundestags von der Geschichte des Hauses abgesetzt hat. Die Entscheidung, fast nur freie Malerei in den Reichstag zu holen, die üblichen Skulpturen Kunst- am -Bau-Applikationen also strikt zu vermeiden, bedeutet tatsächlich einen konsequenten Bruch mit den künstlerischen Traditionen des Wallot-Baus. Die Werteskala des Kunstmarkts ist nun also das Maß der Dinge: Die Vertreter des aktuellen Kunstbetriebs entscheiden, welche Künstler die Bundesrepublik im Parlament künstlerisch, oder doch wenigsten materiell, am besten repräsentieren.Kritzeleien bei der CDUDiese Hinwendung zur autonomen Kunst ist grundsätzlich zu loben, doch sie lässt viele der angekauften Arbeiten im funktionalen Zusammenhang des Parlamentsgebäudes recht beliebig, ja deplaziert wirken. Wenn die Parlamentarier das Haus erst einmal richtig in Besitz genommen haben, werden die Urteile über die eingepflanzte Kunst sicher nicht viel schmeichelhafter ausfallen als zu Stucks Zeiten.So würde es einen nicht wundern, wenn die CDU-Fraktion in ihrer Lobby die zugeteilte hermetische Arbeit bald durch irgendetwas "Verständliches" ersetzen würde. Die konzeptuellen Kritzeleien von Hanne Darboven - eine schier endlose Aufreihung von gerahmten Din-A-1-Blättern - mögen im Rahmen einer Kunstausstellung noch einen ästhetischen Effekt erzielen, doch im "Entspannungsraum" einer Partei werden diese unleserlichen, extrem privatistischen Schreibfigurationen zur harten Prüfung. Daß von ihnen etwas Inspirierendes ausgeht, kann niemand behaupten.Für viele der ausgewählten Bilder und Graphiken - vor allem für die Arbeiten ehemaliger DDR-Künstler, die erst nach heftigen Protesten eingekauft wurden - wird es im Reichstag nie einen angemessenen Platz geben, denn massive Wände sind in der transparenten Architektur Fosters die große Ausnahme. So hat die Kommission etwa die feinen graphischen Bildschichtungen von Carlfriedrich Claus plump vergrößern, auf transparente Acrylglasplatten drucken und in einem Flur aufhängen lassen, sie schweben jetzt also körperlos im Raum; ihre sozialistisch-utopische Botschaft kann die Parlamentarier nicht mehr behelligen.Richtig zufrieden können eigentlich nur die paar Künstler sein, die sich schon während der Bauzeit einen Platz im Gebäude aussuchen durften. Sie hatten Zeit, sich mit ihren Räumen und mit der teilweise heftigen Farbigkeit der Wandverschalungen auseinanderzusetzen und entsprechende Gegenmittel zu entwickeln. Was dabei rauskam, ist teilweise sehr überzeugend. So haben etwa die beiden Senioren Rupprecht Geiger und Emil Schumacher recht temperamentvoll, aber durchaus gegensätzlich auf die extremen farbigen Herausforderungen reagiert. Auch Anselm Kiefer, Bernhard Heisig und Gotthard Graubner brauchten ihre künstlerischen Prinzipien nicht zu verraten; mit ihren präzise auf die Architektur abgestimmten großen Malereien prägen sie souverän den Charakter der ihnen zugeteilten Räume.Den ergiebigsten Auftrag hat sich Günther Uecker gesichert; er durfte im interkonfessionellen Andachtsraum die Architektur selber gestalten. Nun hat er dort also eine Wand so vor die Fenster gestellt, dass das Tageslicht weitgehend ausgeblendet ist. In dem expressiven Halbdunkel sehen seine Nagelbilder aus wie afrikanische Fetische, die nach frischem Hühnerblut verlangen. Ein bisschen Voodoo im Reichstag - ob das den öden parlamentarischen Alltag ein wenig auflockern wird? [...]
Gottfried Knapp
RC
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